Liebe Gemeinde, war es für Sie ein glückliches Jahr? Oder – wie für so viele Menschen auf der Welt – ein unglückliches? Und wenn es ein unglückliches Jahr war, was hat Ihnen geholfen, es zu bewältigen?
Für Dietrich Bonhoeffer war das Jahr 1944 ein schweres Jahr gewesen. Kurz vor Weihnachten, am 19. Dezember 1944 schreibt er an seine Verlobte Maria von Wedemeyer, es sollte sein letzter Brief an sie sein. Vor fast zwei Jahren hatten sie sich verlobt und warteten nun aufeinander - seit 1 ¾ Jahren war Bonhoeffer in verschiedenen Gefängnissen inhaftiert. Bis zum 20. Juli 1944 hatte Bonhoeffer auf einen Freispruch gehofft, danach begann ein Wettlauf mit der Zeit: was würde zuerst da sein: der Zusammenbruch des Nazi-Regimes oder seine Hinrichtung? In dieser Situation schreibt Bonhoffer seiner jungen Verlobten:
„Du darfst nicht denken, ich sei unglücklich. Was heißt denn glücklich und unglücklich? Es hängt ja so wenig von den Umständen ab, sondern eigentlich nur von dem, was im Menschen vorgeht. Ich bin jeden Tag froh, dass ich Dich, Euch habe und das macht mich glücklich froh.“ Und er fügt in den Brief noch das Gedicht ‚von guten Mächten‘ ein mit den Worten:
„Hier noch ein paar Verse, die mir in den letzten Abenden einfielen. Sie sind ein Weihnachtsgruß für Dich und die Eltern und Geschwister.“
Wie kann Bonhoeffer in dieser Situation das so getrostes Gedicht ‚von guten Mächten‘ schreiben? Ist es eine Fassade, die er aufbaut, um seine Verlobte und seine Familie nicht zu beunruhigen?
In einem anderen Gedicht Bonhoeffers vom Juni 1944 lesen wir von anderen Gemütsständen. Ich zitiere in Auszügen:
„WER BIN ICH?
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich trete aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.
Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer, der siegen gewohnt ist.
Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?
Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“
In diesem Gedicht ein einsamer Gefangener, unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig – im Gedicht „von guten Mächten“ ein Gelassener, der innerlich frei ist und verbunden mit seinen Lieben. Was ist passiert?
Im September 1944 entdeckte die Gestapo das Geheimarchiv der Verschwörer vom 20. Juli – also des Kreises, der die Ermordung Hitlers und die Beendigung des Kriegs und der Nazi-Diktatur geplant hatte. Auch Bonhoeffer, der bisher nicht mit dem 20. Juli in Verbindung gebracht worden war, wurde durch die Unterlagen schwer belastet. Das war das Ende jeder Hoffnung auf einen Freispruch. Zugleich war es der Ende von Fluchtplänen Bonhoeffers. Mit dem wohlgesonnenen Gefängniswächter und Unteroffizier Knobloch hatten Bonhoeffer und seine Familie sehr konkret die Flucht aus dem Gefängnis in Tegel geplant. Als Bonhoeffer erfuhr, dass sein Bruder Klaus und sein Schwager Rüdiger Streicher verhaftet worden waren, gab er diese Pläne auf. Am 8. Oktober 1944 wurde er in das gefürchtete Gestapo-Kellergefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße in Berlin verlegt. „Hier ist die Hölle“, erklärte ebenfalls gefangene Admiral Canaris dem Neuankömmling auf dem Weg zum Waschraum. Ein Mitgefangener beschreibt Bonhoeffer dennoch als „gut gelaunt, immer gleichbleibend freundlich und gegen jedermann zuvorkommend und hoffnungsvoll“. Alles nur Fassade?
In seinem Brief an seine Verlobte schreibt Bonhoeffer selbst, was ihm die Kraft für diese heitere Gelassenheit gibt. Er beschreibt es so:
„Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, je stiller es um mich herum geworden ist, desto deutlicher habe ich die Verbindung mit Euch gespürt. Es ist, als ob die Seele in der Einsamkeit Organe ausbildet, die wir im Alltag kaum kennen. So habe ich mich noch keinen Augenblick allein und verlassen gefühlt. Du, die Eltern, Ihr alle, die Freunde und Schüler im Feld, Ihr sei mir immer ganz gegenwärtig. Eure Gebet und guten Gedanken, Bibelworte, längst vergangene Gespräche, Musikstücke, Bücher bekommen Leben und Wirklichkeit wie nie zuvor. Es ist ein großes unsichtbares Reich, in dem man lebt und an dessen Realität man keinen Zweifel hat.“
In der Einsamkeit, in der Stille, in der Hölle des Gestapo-Gefängnisses bleibt Bonhoeffer mit seinen Lieben, mit seiner Verlobten, seinen Eltern, seiner Familie, seinen Freunden verbunden durch Gebete und GEdanken, durch Musik, durch gemeinsame Erfahrungen – in einem unsichtbaren Reich und zugleich fast körperlich erfahrbar durch Organe der Seele. Aus diese Verbundenheit, aus diesen Begegnungen im Geist und in der Seele – so stelle ich es mir vor – schöpft Bonhoeffer die Kraft, die Hölle auf Erden zu ertragen.
Aber nicht allein daraus. Er schreibt weiter:
„Wenn es im alten Kinderlied von den Engeln heißt: „zweie die mich decken, zweie, die mich wecken“, so ist diese Bewahrung am Abend und am Morgen durch gute unsichtbare Mächte etwas, was wir Erwachsene heute nicht weniger brauchen als die Kinder.“
Dietrich Bonhoeffer, der Intellektuelle, der sich gegen zu viel Innerlichkeit wehrte und ein religionsloses Christentum prophezeite, wird in der Hölle wieder zum Kind, das sich von Engeln umgeben weiß. Aber nicht allein von Engeln.
In der sieben und letzten Strophe seines Gedichts von guten Mächten ist es Gott, der immer mit uns ist – am Abend und Morgen. Und es gehört zu den genialen Kunstgriffen von Siegfried Fietz, dass er in seiner Vertonung die siebte Strophe als Kehrvers nimmt. So schwingt sich das ‚Gott ist mit uns‘ im 6/8 Takt ins Herz hinein.
Dieses ‚Gott ist mit uns‘ ist es, dass Bonhoeffer auch die dritte, die schwerste Strophe des Gedichts schreiben lässt:
„Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern
Des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
So nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
Aus deiner guten und geliebten Hand.“
Mir fällt es schwer, diese Strophe zu singen, mir zittert ja schon die Stimme beim Singen, wie sollte da nicht meine Hand zittern? Bonhoeffer dagegen war überzeugt:
„Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir sie brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst verlassen, sondern allein auf ihn verlassen.“
Nein, Bonhoeffer hatte sich nicht nach einem Martyrium gesehnt, das zeigen seine Fluchtpläne. Seine Sehnsucht nach der "Welt und ihrer Sonne Glanz", kommt in den Versen 4 bis 6 zum Ausdruck. Hier wendet sich das Gedicht in einer für Bonhoeffer charakteristischen Weise: Nicht sein jenseitiges Seelenheil ist Bonhoeffer wichtig, sondern das Leben in der diesseitigen Welt.
Doch ob im Diesseits oder im Jenseits, in der Hölle oder im Himmel – Bonhoeffer hatte die Erfahrung gemacht: Gott ist mit ihm am Abend und am Morgen.
Diese Gewissheit lässt ihn unerschrocken in die Zukunft schauen und in dem Gedicht ‚von guten Mächten‘ zugleich den Abschied von seiner Verlobte und seiner Familie vorzubereiten. Denn in dem „Gott ist mit uns“ verbergen sich ja die christlichen Abschiedsgrüße: goodbye (God be with you/Gott sei mit dir), adieu (geh mit Gott) und Pfiad di (Behüt dich Gott).
Liebe Gemeinde,
auch wir wissen nicht, was die Zukunft für uns bereithält. Aber wir können versuchen, in der Stille Organe an unserer Seele auszubilden, die uns mit unsere Lieben verbindet, die gestorben sind oder die nicht bei uns ein können, die wir vermissen. Und diese Organe können uns zugleich sensibel machen für die guten Mächte, die uns vergangenen Jahr begleitet haben und im neuen Jahr begleiten werden. Vielleicht gelingt es uns dann, wie Bonhoeffer, unser Glück nicht so sehr von den Umständen abhängig zu machen, sondern davon, was in uns, in unseren Seelen vor sich geht. Und vielleicht machen wir dann auch die Erfahrung, dass Gott mit uns ist.
Am Abend und am Morgen. Und ganz gewiss an jedem neuen Tag.
Amen.